Interview mit Magdalena Kroner
Tim Berresheim bestückt die »fundleere Schicht«
Ein Interview
Wenn in 40 000 Jahren nach unserer Gegenwart gesucht wird, was wird wohl »ausgegraben«? Sich heute damit zu beschäftigen, mag redundant erscheinen – ist es aber nicht. Um zu erforschen, was für unsere Zukunft tatsächlich relevant sein wird, erkundet Tim Berresheim für seine Retrospektive NEUE ALTE WELT im NRW-Forum Düsseldorf mithilfe der prähistorischen Archäologen Nicholas John Conard und Sibylle Wolf von der Universität Tübingen sieben zum Weltkulturerbe zählende Höhlen in Baden-Württemberg, in denen der Homo sapiens während des späten Paläolithikums lebte.
Die Vermutung von Berresheim ist, dass wir uns heute an einer ähnlichen Schwelle wie vor 40 000 Jahren befinden – wir möchten uns einen neuen Raum ermöglichen, in dem wir Menschen wirkmächtig agieren können: der digitale Raum. Bediente sich der Homo sapiens damals Werkzeugen aus Stein, Holz und Knochen zur Bewältigung seines Alltags und Schöpfungsprozesses, sind es gegenwärtig Rechner, Roboter oder KI. Der Begriff des »kognitiven Werkzeugs« beschreibt, dass das Werkzeug unser Denken formt; dieser wird zur Rahmenerzählung der Retrospektive des Künstlers. »In meiner digitalen Höhle habe ich unterschiedliche Formen von Kunst inszeniert. Ich bin überzeugt davon, dass der Computer als Projektionsfläche eines Werkzeugs unser Denken in eine neue Richtung lenken kann – ähnlich wie es der Faustkeil damals den Menschen ermöglicht hat, irgendwann aus der Höhle herauszutreten.« Die Höhle ist für Tim Berresheim ein plausibles Setting, um das Neue zu besprechen und Artefakte an der Schnittstelle von digital und analog zu erarbeiten. Die Begrifflichkeiten Alt und Neu erfahren in der Praxis des Künstlers einen grundlegenden Richtungswechsel, ihre Verschränkung ein Umdenken. Eindrücklich erschließt sich diese Herangehensweise beim Ausstellungsbesuch, denn die zahlreichen Vitrinen sind mit analogen Materialen bestückt, die Tim Berresheim in der digitalen Höhle sammelt, sortiert und einsetzt, um anschließend etwas zu schaffen, das als Kunstwerk in die Welt tritt. Aufmerksamen Rezipienten entgeht dabei nicht, dass gleiche Requisiten für unterschiedliche Erzählungen zum Einsatz kommen.
Magdalena Froner: In Ihrer Retrospektive inszenieren Sie eine Evolution des Menschen und der Kunst. Wie sind diese Evolutionsstränge miteinander verbunden? Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach die Technologie dabei?
Tim Berresheim: Die Evolutionsbiologen sind sich sicher, dass der Homo sapiens vor 40 000 Jahren kognitiv bereits das Potenzial hatte, das wir heute haben. Nur musste er seinen Alltag anders bewältigen. Der Faustkeil hat sein Denken geformt und es hat lange gedauert, bis er zum Ackerbau fand. Die Idee der Alltagskultur und der Kulturäußerung hat es auch vor 40 000 Jahren schon gegeben. Man hat in Hohenfels 3 Knochenflöten gefunden. Und die sind pentatonik- und stimmstabil. Demnach ist es sehr wahrscheinlich, dass gemeinsam musiziert, getanzt oder gar gesungen wurde; ob sie Sprache hatten, ist Spekulation. Wir sind gerade in einem Moment unserer Evolution, der sehr transformativ ist. Unser Denken kann völlig neue Wege gehen. Bei der enormen Geschwindigkeit, in der unsere Welt gerade dynamisiert wird, darf die Kunst sich das in Ruhe anschauen. Es kann gut sein, dass nicht alle im Umlauf befindlichen Ideen super sind, sondern dass die Präzision der Idee noch gar nicht ausgereift ist.
Was ist neu, was ist alt?
Ob das Neue wirklich neu ist und das Alte wirklich alt … Die Frage ist vielmehr, was trägt länger? Die sogenannte »fundleere Schicht« ist jene Schicht, in der keine Artefakte gefunden werden. Diese dient der Wissenschaft unter anderem als Beweis dafür, dass sich der Homo sapiens und der Neandertaler nicht begegnet sind. Warum war und ist der Homo sapiens so erfolgreich?
Gehen Sie dieser Frage in Ihrem Selbstbildnis am Eingang zur Ausstellung nach?
Ja vielleicht – jedenfalls zeigt es mich sowohl vorausschauend, zurückblickend als auch deutend. Es brauchte in der Tat viel analoge Welt um dieses Bild zu schaffen. Eine hochauflösende Fotogrammmetrie von mir, also mich als virtuelle Gliederpuppe und die Höhleninformationen, mit denen ich meine Hautoberfläche verwoben habe. Das Werk schließt symbolisch den Kreis zu meinen Anfängen und eröffnet zugleich den Blick für Neues. Am Anfang erlebte ich den digitalen Raum als ein unendliches Nichts. Zuerst kam mir in den Sinn in den einfachsten Raum bestehend aus Boden und Rückwand einen Menschen zu setzen. Ich musste alles neu erfinden, begann Material zu sammeln, es in der digitalen Höhle zu sortieren, suchte nach Themen und nach Formen des Ausdrucks. Dabei muss ich zuerst den Computer als Werkzeug denken und daraufhin an die Lösung. Eine mehrstufige Herausforderung. Inzwischen bin ich der Lage mit entsprechendem Material ganze Bühnen zu »zimmern«, komplexe Algorithmen zu programmieren, die Roboter zeichnen lassen oder Architekturstudien als Erinnerung an abgerissene Häuser anzufertigen.
Erlauben Sie mir bezogen auf Ihre Biografie noch eine Hintergrundfrage: Zu Ihren Talenten zählen nicht nur die Bildende Kunst, sondern auch die Musik und die Bühneninszenierung. Welches haben Sie zuerst entdeckt und wie ergänzen sich diese künstlerischen Disziplinen in Ihrem Schaffensprozess?
Das war die Musik. Ich wusste, bis ich 25 Jahre alt war, nicht, dass die Bildende Kunst etwas für mich ist. Davor habe ich kurz Informatik studiert und wollte Drehbuchautor werden. Dafür habe ich eine Drehbuchassistenz bei Burkhard Driest absolviert. Ich glaube, dass der Computer mir dabei hilft, genau das Bild zu inszenieren, das die analoge Welt nicht kann – weil wir schlechtes Wetter, schlecht gelaunte Schauspieler oder fehlerhafte Requisiten in Kauf nehmen müssen. Der Computer ermöglicht es mir, im kleinsten Detail das zu inszenieren, was ich mir vorstelle. Es geht mir um ein Inszenieren von ästhetischen Phänomenen. Hier schließt sich der Kreis zum Drehbuchautor. Es ist meine Begeisterung für das Bild, das ich aber in einem größeren Setting besprochen wissen möchte.
Tim Berresheim wird heute als Pionier der computerunterstützten Kunst bezeichnet. Stimmen Sie dem zu?
Ich arbeite tatsächlich unterstützt – nicht generativ. Das ist eine Nische, die Schnittstelle, wo der Computer mich als Kunstschaffenden unterstützt, unterschiedliche Dimensionen zusammenzuführen. Der Mensch, nicht die Maschine ist das zentrale Thema. Das Gedicht »All Watched Over By Machines Of Loving Grace« von Richard Brautigan beschreibt, wie der Computer uns von der stupiden Arbeit befreit – KI macht aber derzeit was anderes: Sie schafft Bilder, sie schreibt Texte. Wir sollten uns vielmehr die Frage stellen: Worauf haben wir keinen Bock? Wie kann uns der Computer dabei unterstützen, einen neuen Alltagskulturprozess zu entwickeln?
Können Sie uns ein Beispiel für Ihr Kunstschaffen nennen?
Ich fahre nach Süddeutschland, erkunde die Höhlen, messe diese mit einem Laser aus und komme mit zehn Milliarden Datenpunkten zurück. Die kann ich nicht mit dem Taschenrechner ausrechnen. Ich nutze die Rechenleistung und gebe dem Computer vor, was ich haben möchte. Der rechnet daran monatelang. Im Ergebnis entnehme ich die Requisite, die ich »unterstützt« erschaffen habe, und mache dann aus einem bestimmten Winkel ein Bild, das als Fotografie in die Welt tritt. Für diese Ausstellung gehe ich aber auch noch weiter: Ich habe beispielsweise die Steinstruktur der Höhlenhülle anhand einer von mir gefertigten Schwarz-Weiß-Tusche-Zeichnung verformt. Dem Stein wurde durch das reinrechnen der Daten ein Relief aufgetragen. Illusionistisch gehen die Linien von dem Bild, das an der Wand als Kunstwerk hängt, in jene der Schwarz-Weiß-Zeichnung an der Wand im Hintergrund über.
Diese Vielschichtigkeit ist bemerkenswert. Sie beschreiben Ihre Methode auch als »künstlerische Gegenwartsarchäologie«. Können Sie erklären, was das bezogen auf Ihr Werk bedeutet?
Das Moment der Zeitgenossenschaft erkenne ich im Zeitraffer der Technologie. Jeden Tag tut sich etwas auf, das wieder verschwindet. Heute Nachmittag suche ich nach etwas, das es heute Vormittag noch gab. Für mich ist der Phoenix zugleich auch der Early Bird und dem habe ich Die Menschheit hat sich derzeit noch nicht darauf geeinigt, was digitales Denken ist. Deshalb muss man immer wieder danach graben, etwas herausholen und neu besprechen. Ich habe von Anfang an nach Schnittstellen gesucht, wo ich mit Menschen interagiere, die analog arbeiten.
Solche Interaktionen dienen als »Materialgeber« für Ihre digitale Höhle. Wie darf man sich das in der Praxis vorstellen?
Ich denke da an das Projekt der Flugshow in Aachen. Im Rahmen eines Workshops mit einer Schulklasse zur Einlinienzeichnung haben die Kinder Zeichnungen erarbeitet, die danach bei einem Volksfest in Aachen von einem Flugzeug in den Himmel geflogen wurden. Die Maschine wurde mit Sensoren versehen und dieser Datenstrom wurde mir anschließend übergeben. Vor Ort malten die Kinder Bilder der Flugshow. Ich habe die Daten der Maschine mit der Malerei der Kinder kombiniert, die Malerei durch den dreidimensionalen Raum gezogen. Entstanden ist daraus eine Grafik an der Wand, die aber auch eine Skulptur oder ein Bewegtbild hätte sein können. Materialgeberin war die Alltagskultur und daraus ist Kunst entstanden.
In den Vitrinen zeigen Sie das umfangreiche Material und an den Wänden die jeweils entstandenen Werke dazu. Wollen Sie damit der »Fundleeren Schicht«, die Sie vorher angesprochen haben entgegenwirken?
Meine ganze Arbeit fundiert auf dem Bestreben, keine fundleere Schicht zu hinterlassen. Die Schicht zwischen der digitalen und analogen Welt erlebe ich aktuell als relativ fundleer, weil nicht viele darin arbeiten. Ich hoffe, dass ich mit meiner Arbeit dazu beitragen kann, Artefakte zu finden.
Sie haben mit den Archäologen Nicholas John Conard und Sibylle Wolf zusammengearbeitet. Wie hat diese Zusammenarbeit Ihre Sicht auf die Kunst beeinflusst?
Conard ist fest davon überzeugt, dass das Kulturschaffen seit jeher zum Erfolgsprozess des Homo sapiens beigetragen hat bzw. beiträgt. Höhle ist Topografie. Übertragen auf die »digitale Höhle« handelt es sich um mehrere Orte in einem zusammenhängenden Raum. Wir müssen uns dieses Raums ermächtigen und gemeinsam herausfinden, was sich alles abspielen kann. Ich bin überzeugt, dass das Alte auf das Neue einzahlt. Eine alte Idee, die sich bewahrheitet, kann auch neu sein.
Wagen wir einen Blick in die Zukunft: Wir wird sich Ihrer Ansicht nach die Kunst im Kontext der ständig fortschreitenden Digitalisierung und Technologisierung unserer Gesellschaft entwickeln? Welchen Platz wird sie einnehmen?
Ich werde mir Mühe geben, dass die neuen Werkzeuge die Kunst attraktiver und nicht unattraktiver machen. Ein kritischer Ton wäre, dass die Kunst – was das Thema Computer und Digitalität angeht – sich nicht mit Ruhm bekleckert hat. Als NFT aufkam, machten alle des Geldes wegen mit. Das war ungeschickt und nicht appetitlich. So ähnlich wird es auch bei KI sein. Ich würde gerne eine Lanze dafür brechen, dass wir als Künstler die Entwicklungen sehen und wahrnehmen, aber langsam und bedacht überlegen, was wir damit anstellen können. Im Moment ist die Kunst bei jeder neuen Technologie ganz vorne mit dabei. Sie hat aber noch keinen Prozess und kein Fundament gefunden, um sich ernsthaft zu nähern. Zugleich habe ich die starke Vermutung, dass sich im digitalen Raum gerade auch polarisierende Themen wie Heimat oder Religion neu betrachten lassen, die Gesellschaft könnte lernen anders damit umzugehen, beispielsweise inklusiver.
Diese Vermutung lässt jedenfalls hoffnungsvoll auf das Neue in der alten Welt blicken. Vielen Dank für das Gespräch.